Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch auf echte Fresken aufmerksam machen, die sich in einer ganz tollen mittelalterlichen Burg befinden, dem Schloss Rodenegg in Rodeneck/Rodengo am Eingang des Pustertals in Südtirol. Dort befindet sich ein sehenwerter Fresken-Zyklus zum Iwein-Lied, der im ersten Viertel des 13. Jhdts. entstanden sein dürfte. Die Burg ist jedoch älter. Mein Tipp: Burg und Fresken unbedingt anschauen, wenn man mal über den Brenner kommt!
Anekdotenhaftes kann ich dazu ebenfalls berichten, wobei einmal eine alte, vornehme, gebildete Dame und einmal eine junge, hübsche Studentin der Kunstgeschichte eine Rolle spielen.
Ich habe die Fresken zum ersten Mal Ende der 1970er Jahre gesehen und wurde von der Hausherrin, der alten Baronin von Call geführt, einer geborenen Gräfin von Wolkenstein-Rodenegg. Das Feuer, das die betagte Dame in sich trug, und die Begeisterung für diesen ungeheueren Kunstschatz, den sie noch erleben durfte, riss einen wirklich mit. Ihre Führung wird mir unvergessen bleiben.
Da ich seit Jahrzehnten mit meiner Frau wenigstens einmal im Jahr im Dorf Rodeneck Urlaub mache, war ein erneuter Besuch der Fresken nur eine Frage der Zeit. Irgendwann vor zehn oder 15 Jahren war es so weit. Wir waren diesmal nicht im Herbst, sondern schon im August in Südtirol, in der Zeit um Ferragosto, wenn in Italien Stillstand der Rechtspflege herrscht, weil das ganze Land in Ferien ist. Auch Südtirol ist um diese Zeit fest in der Hand der Gäste aus der Lombardei oder aus Venetien, die Deutschen kommen meist erst im Herbst.
An einem wahnsinnig heißen Tag wollte meine Frau unbedingt im nahen Brixen shoppen, wozu ich partout keine Lust hatte. Also ließ ich ihr das Auto und nahm mir vor, mit Muße nochmals die Iwein-Fresken anzuschauen, die sich damals schon großer Bekanntheit erfreuten, anders als zu Zeiten der alten Baronin Call, die nun inzwischen verstorben war. Ich machte mich also auf den etwas viertelstündigen Fußweg vom Hotel zum Schloss. Auf der Brücke vor dem Schlosstor, der ehemaligen Zugbrücke sahh ich zu meinem Erschrecken schon mindestens 30 bis 40 wartende Touristen stehen. Da mir die engen Verhältnisse im Innern geläufig waren, schwante mir Böses für die Führung und den zu erwartenden Kunstgenuss.
Einige Minuten später öffnete sich das Tor. Eine ältere und eine junge Frau traten heraus, um die wartende Herde nach italienisch- und nach deutschsprachigen Besuchern zu trennen: Italiener auf die linke Seite, die Deutschen auf die rechte. Zu meinem Erstaunen und nicht geringer Erleichterung sah ich kurz darauf 30 oder 40 Italiener auf der gegenüber liegenden Seite sich aufstellen. Auf meiner Seite sah ich niemanden - ich war der einzige Deutsche! Da mich obendrein noch das Los traf, dass die hübsche Studentin der Kunstgeschichte die deutschsprachige Führung machte, wurde diese zweite Begegnung mit Iwein zu einem ähnlich interessanten Erlebnis wie die erste - ein vergnügliches Privatissimum der anregenden Art.
An einem Punkt musste ich der jungen Dame allerdings widersprechen, als sie ansonsten kenntnisreich die einzelnen Fresken im Detail beschrieb. Wiederholt machte sie auf die geschlossenen Augen der Figuren aufmerksam, die sie mit angeblicher Trauer über die jeweils gezeigten Ereignisse begründete. Das erschien mir nicht in jedem Fall schlüssig, und ich schaute wieder und wieder hin. Bis es bei einer Darstellung zum Aha-Erlebnis kam. Wenn man scharf hinschaute, waren in den Augäpfeln deutlich Reste weißer Farbpigmente zu erkennen, verblasst zwar, aber noch da. Und als ich dann die anderen Augen erneut anschaute, die auf den ersten Blick fleischfarben und deshalb wie geschlossene Lider aussahen, entdeckte ich plötzlich noch mehr solche Stellen. Ganz klar, die hatten alle ihre Augen offen. Nur war die weiße Farbe viel stärker verblasst als die anderen Farben, etwa der Gewänder.
Als ich meine Führerin darauf ansprach, war sie zunächst sicher, dass ich irrte. Aber ich beharrte und forderte sie auf, diese und jene Stelle doch einmal genau anzuschauen - da, am linken Auge, neben der Nase! Man sah die Erleuchtung regelrecht kommen und auch, wie sie kurz darauf einer gewissen Bestürzung wich, dann leichter Verwirrung und Ratlosigkeit Platz machte. Die junge Frau löste die Situation mit einem Lachen und dem Eingeständnis, dass sie die Augen der Figuren plötzlich mit anderen Augen sehe, dies aber erst einmal verarbeiten müsse.
Bald darauf endete am Tor der anregende Rundgang, bei dem alle Beteiligten etwas gelernt hatten, und ich versuchte, durch ein sehr ordentliches Trinkgeld das Pech der Studentin auszugleichen, eine so kleine "Gruppe" erwischt zu haben.
Auch wenn ich für Alter und Schönheit des heutigen Führungspersonals keinerlei Garantie übernehmen kann, kann ich Schloss Rodenegg besten Gewissens empfehlen. Die Zeit um Ferragosto scheint besonders gut geeignet zu sein, da landet man leichter in der kleineren Gruppe.
Walram